Wer mit viel Mühe viele Bücher durchblättert hat,
verachtet das leichte, einfältige Buch der Natur.
Und ist doch nichts wahr,
als was einfältig ist.
Goethe.
Zum zweitenmal rief mich der lenzliche Wald. Beim
erstenmal war der Frühling noch herb, obgleich die
Stare schon seit Wochen vom kahlen Buchenwipfel
herab den Kehraus für den Winter pfiffen, die Kohlmeise
selig ihr Glöckchen schwang und vor mir dieselbe
Heimaterde, die gestern noch die alte hieß, den
feinen, wundersamen Duft zurückgewonnener Jugendfrische
der Ackerkrume entströmen ließ.
Jetzt war dem bebenden Erwarten endlich Erfüllung
zuteil geworden. Um das in sattes Braun getauchte
Gezweige der Birken am Waldessaum hob ein
geschäftiges Weben an, und über die Wipfel der grauen
Buchen breitete sich ein purpurner Schimmer. Aus
allen Zweigenden der Gebüsche lugten frischgrüne
Spitzen hervor, und aus der Waldtiefe wehte ein Lüftchen
würzigen Mandelgeruch heran: der Seidelbast
glühte im Schmuck seiner Blüten und warb um den
Anflug von Bienengästen, bevor der sich steigernde
Laubausbruch der Sonne den Durchblick verweigerte.
Auch sonst war der Wald schon mit Anmut geschmückt.
All die vertrauten Frühlingskinder in weißen
und purpurnen Gewändern, in Gold, Violett und
Blau gekleidet, Anemonen, Lerchensporn, Lungenkraut,
Feigwurz, Leberblümchen, Veilchen und was
sie sonst für Namen trugen, streckten ihre Blütenköpfchen
lebensfroh aus dem gelbbraunen Fallaub.
Das Meisenvolk war nicht mehr tonangebend, so
lebhaft es auch am Waldesrand seine Gegenwart zu
erkennen gab. Die Amsel, der Sänger im schwarzen
Frack, auf dem höchsten Buchenzweige thronend,
hatte die Kehle bereits gestimmt, Finken schmetterten
ihre Strophe »ziziziziziwitjiu«, Goldammer leierte
ihren Vers, der trotz seiner kunstlosen Einfachheit so
gut in die Frühlingsstimmung paßte, und über den
Feldern und trockenen Wiesen, auch sie schon mit
bunten Blumen bestickt, kletterten jubelnde Lerchen
ins Blau.
Mit hundert Tönen, Farben und Rüchen lockte der
sich verjüngende Wald, derweil ich, am silbernen Birkenstamm
lehnend, die Blicke ins Weite wandern
ließ. Hoch über all diesem Hoffnungsglück, über
allem Drängen und Knospensprengen, Blühen, Duften
und Jubilieren zogen am lichten Himmelsgewölbe
zierliche weiße Wölkchen dahin, und als in die jauchzende
Feiertagsstunde dann noch ein helles Sonntagsläuten
vom Kirchturm des nahen Dorfes hereinklang,
da war mir, als müsse ich die Arme vor Seligkeit auseinanderbreiten,
um auszudrücken, was ich empfand.
Ob wohl in andern der Ruf des Waldes die gleichen
Empfindungen wach werden läßt? Es muß wohl so
sein, denn seit Menschengedenken geht ein geheimnisvoller
Zauber vom Wirken und Weben des Waldes
aus, gleichviel ob seine Wipfel rauschen wie fernher
tönender Orgelklang oder ihn tiefernstes Schweigen
erfüllt, gleichviel ob er im Lenzgrün prangt oder
herbstliche Stürme mit welken Blättern ein tolles
Wirbelspiel in ihm treiben, die Glut des Mittsommers
über ihm flimmert oder der Winter die kahlen Äste in
Schnee oder glitzernden Rauhreif hüllt.
Es geht eine magische Kraft aus vom Walde, ein
unbestimmbares Weißnichtwas, das sänftigend auf
Gemüt und Seele und anregend auf die Sinne wirkt.
Zu allen, die zu ihm kommen, spricht er, immer auf
eine besondere Art. Den von inneren Bedrängnissen
Erfüllten spendet er Trost in die kranke Seele. Den
Fröhlichen öffnet er Herz und Mund, daß ihnen im
Anblick der Schönheit ringsum von selbst ein Lied
von den Lippen quillt. In Kinderherzen läßt er die
Helden des Märchenbuches lebendig werden, von
denen in traulichen Dämmerstunden die Mutter so
viel zu erzählen wußte: Rotkäppchen, Schneewittchen,
Hänsel und Gretel, und horchenden, sehenden
Wanderern erzählt er tausendundeine Geschichten von
Pflanzenwundern und Wundertieren, die oft viel märchenhafter
sind als die Geschichten der Brüder Grimm.
Vollinhaltlich gilt das indessen nur für den deutschen
Menschen im deutschen Wald. Ihm ist als Erbteil
aus Vorvätertagen, da Deutschlands Boden zu
etwa zwei Dritteln im dichten grünen Urpelz steckte,
der Zug zur Natur fest eingefleischt, und die Natur
verkörpert sich ihm noch immer am reinsten in seinem
Wald, wo sie zugleich am ursprünglichsten ist.
Freilich, der Urpelz, der echte Naturwald, ist seit
Jahrhunderten schon dahin. Bloß spärliche Reste sind
übriggeblieben, in Süddeutschland, in den deutschen
Alpen und hier und da noch anderswo. Was wir für
gewöhnlich als Wald bezeichnen, ist nur ein ärmlicher
Ersatz für die gemordete Vollnatur in Urwüchsigkeit
und Ursprünglichkeit, ist »Forst«, unter
Zwangszucht geratener Wald.
Dennoch: es leben in diesen Forsten die altehrwürdigen
Bäume von einst. Es lebt die gewaltige, knorrige
Eiche unverändert in Art und Gestalt, Symbol
deutscher Kraft und Zähigkeit. Noch gibt es vereinzelte
trotzige Recken, ehemals Glieder im Waldverband,
die fünfhundert, achthundert, tausend Jahre
siegreich dem Zeitensturm widerstanden, wenn auch
schwer mitgenommen vom Kampf. Es stehen Buchen,
Linden, Ulmen, Birken und Eschen im heutigen Forst,
und wenn er auf Nadelhölzer beschränkt ist, beherbergt
er neben Fichten und Kiefern, Lärchen und Tannen
wohl auch noch Eiben, aus deren Holz die alten
Germanen sich ihre Waffe, den Bogen, schufen. Dieselben
Sträucher, dieselben Kräuter, dieselben Blumen
wie Anno einst. Erloschen ist glücklicherweise
keines von den Gewächsen der Urväterzeit.
So haben wir uns damit abgefunden, daß Deutschland
bis auf wenige Schlupfwinkel keinen echten Naturwald
mehr hat, und Forste für Wälder zu nehmen
gelernt. Wir brauchen etwas für Geist und Gemüt, das
gleichzeitig Sinnbild für Deutsch und Heimat und
Ausdruck für Unvergängliches ist. Etwas, das im ewigen
Gleichklang, unabhängig vom Wandel der Zeiten,
durch die Flucht der Jahrhunderte geht und damit Natursinn
und Heimatgefühl in uns und den Nachkommen
wach erhält. Das deutsche Volk ist von Haus aus
ein Waldvolk, und immer noch spiegelt sich diese
Herkunft im Grundzug seines Wesens ab. Die Baumverehrung
der alten Germanen, der Waldglaube, der
an die Jahreszeiten und ihren Wechsel gebunden war,
der Hang zum Träumen, die Neigung zum Grübeln,
mit einem Worte die Seelenverfassung, die die Umgebung,
die Waldmasse prägte, sie lebt im vererbten
Blute fort.
Wir pflegen den Laubwald, den Buchenhochwald,
wenn er im zarten Maiengrün dasteht und sein von
silbergrauen Säulen getragenes luftiges Blätterdach
dem Himmelsblau noch den Durchblick freiläßt, gelegentlich
einem Dom zu vergleichen. Wer aber hat
beim stummen Anblick der feierlichen grünen Hallen
je den Gedanken in sich erwogen, ob sie nicht einmal
das lebende Vorbild wirklicher Dome gewesen sein
könnten?
Kein Kunstgeschichtsschreiber, ein Botaniker hat
ihn zum erstenmal ausgesprochen, R.H. Francé, der
sein Wissenschaftsfeld durch Weitblick und Ideenreichtum
so vielfältig schon bereichert hat und oft
genug auch jenseits der Grenzen seines engeren Arbeitsgebietes
fruchtbare neue Gedankensaat auswarf.
Der gotische oder »altdeutsche« Baustil, wie man ihn
ehemals zutreffend nannte, hat nach Francé seinen Ursprung
im Wald. Der hochgewölbte Buchenwald mit
seinen imposanten, oft bis zu zwanzig Meter Höhe
vollkommen astreinen Säulenstämmen, dem leichten
Netzwerk seiner Decke und seinen durch die steilen
Äste und deren leicht geneigte Zweige von selbst gegebenen
Spitzbogenbildungen war den Schöpfern der
Gotik das Vorbild. Sie suchten nach einem Ausdruck
für das, was sie tiefinnerlich erfüllte. Ihre Seele war
voll von Erinnerungen an die geweihten Andachtsstätten,
auf denen die Vorfahren Sonnenfeste, Ostara-,
Mittsommer-, Erntefeste jahrhundertelang begangen
hatten, bevor sich dem alten Väterglauben der neue
des Christentums zugesellte. So bauten sie weiter
»heilige Haine« in ihren Domen und Kathedralen,
steingewordene Andachtshallen mit mächtigen schlanken
Strebepfeilern, die hoch im Raume sich spitzbogenförmig
zum Rippengewölbe zusammenfügten.
Und daß ihr Vorbild, der Waldesdom, recht deutlich
zur Erscheinung komme, ließen sie ihn durch die Ornamentik
der Kapitelle, Konsolen, Gesimse in seiner
eigenen Sprache reden, indem sie in mannigfaltigem
Wechsel das Blatt des Eichbaums, des Efeus, der
Rebe, der Rose, der Stechpalme und so weiter naturgetreu
oder stilisiert zu anmutiger Verwendung brachten.
Sogar den wechselnden Farbenzauber des Laubwaldes
wußten sie einzufangen, indem sie die ganze
Skala der Töne vom strahlenden Gelb über Grün und
Blau bis zum flammenden Rot in gewollter Buntheit
über die Spitzbogenfenster ergossen und den gefälligen
Sonnenstrahlen zum stimmungvermittelnden
Spiel überließen. Mag sein, daß die Kunsthistoriker
dem Deutungsversuch eines Außenseiters ihre Zustimmung
vorenthalten, die stillen Verehrer und Kenner
des Waldes wissen ihm freudigen Dank dafür.
Der Wald ist indessen mehr als ein Dom, mehr als
ein Wecker und Befreier vom Alltag verschütteter
seelischer Kraft. Sein lenzliches Blühen, Singen und
Klingen, sein leises Weben in Sommertagen, sein
buntes, jubelndes Herbstfarbenfest und seine verzau-
berte Winterschönheit empfindet jeder naturfrohe
Mensch, auch wenn er den Sinn dieses Wechsels nicht
kennt. Daß aber und warum am Walde als einer auf
Gleichgewicht eingestellten, unendlich verschlungenen
Lebensgemeinschaft die Zukunft unserer Heimat
hängt und damit die Zukunft des deutschen Volkes,
davon gibt sich unter den Tausenden, die in der Waldluft
Erquickung suchen, kaum einer ernsthaft Rechenschaft.
Die Spaziergänger hören die Axtschläge dröhnen
und wissen, die Holzhauer sind am Werk. Sie sehen
zu Dutzenden lange Baumstämme auf dem Waldboden
hingestreckt, vielleicht auch geschnittenes Klobenholz,
nach Raummetern sorgfältig aufgeschichtet,
und wissen, der Förster will Holzauktion halten. Wie
vielen von ihnen steht klar vor Augen, was unser
deutscher Waldbesitz von 12,6 Millionen Hektar für
die Volkswirtschaft zu bedeuten hat?
Der Forstwissenschaftler Hausrath belehrt uns, daß
vor dem Weltkriege (seitdem fehlen verläßliche statistische
Zahlen) ständig 200000 Leute in deutschen
Wäldern beschäftigt waren und fünfmal so viele wenigstens
teilweise ihren Lebensunterhalt durch Arbeit
in den Waldungen fanden. Hinzu kamen weiterhin
alle jene, die mittelbar vom Walde lebten (nach der
Statistik eine Million), die also bei der Holzbearbeitung
für den Handel ihr Brot verdienten oder Waren und wenn
er auf Nadelhölzer beschränkt ist, beherbergt
er neben Fichten und Kiefern, Lärchen und Tannen
wohl auch noch Eiben, aus deren Holz die alten
Germanen sich ihre Waffe, den Bogen, schufen. Dieselben
Sträucher, dieselben Kräuter, dieselben Blumen
wie Anno einst. Erloschen ist glücklicherweise
keines von den Gewächsen der Urväterzeit.
So haben wir uns damit abgefunden, daß Deutschland
bis auf wenige Schlupfwinkel keinen echten Naturwald
mehr hat, und Forste für Wälder zu nehmen
gelernt. Wir brauchen etwas für Geist und Gemüt, das
gleichzeitig Sinnbild für Deutsch und Heimat und
Ausdruck für Unvergängliches ist. Etwas, das im ewigen
Gleichklang, unabhängig vom Wandel der Zeiten,
durch die Flucht der Jahrhunderte geht und damit Natursinn
und Heimatgefühl in uns und den Nachkommen
wach erhält. Das deutsche Volk ist von Haus aus
ein Waldvolk, und immer noch spiegelt sich diese
Herkunft im Grundzug seines Wesens ab. Die Baumverehrung
der alten Germanen, der Waldglaube, der
an die Jahreszeiten und ihren Wechsel gebunden war,
der Hang zum Träumen, die Neigung zum Grübeln,
mit einem Worte die Seelenverfassung, die die Umgebung,
die Waldmasse prägte, sie lebt im vererbten
Blute fort.
Wir pflegen den Laubwald, den Buchenhochwald,
wenn er im zarten Maiengrün dasteht und sein von
silbergrauen Säulen getragenes luftiges Blätterdach
dem Himmelsblau noch den Durchblick freiläßt, gelegentlich
einem Dom zu vergleichen. Wer aber hat
beim stummen Anblick der feierlichen grünen Hallen
je den Gedanken in sich erwogen, ob sie nicht einmal
das lebende Vorbild wirklicher Dome gewesen sein
könnten? Kein Kunstgeschichtsschreiber, ein Botaniker hat
ihn zum erstenmal ausgesprochen, R.H. Francé, der
sein Wissenschaftsfeld durch Weitblick und Ideenreichtum
so vielfältig schon bereichert hat und oft
genug auch jenseits der Grenzen seines engeren Arbeitsgebietes
fruchtbare neue Gedankensaat auswarf.
Der gotische oder »altdeutsche« Baustil, wie man ihn
ehemals zutreffend nannte, hat nach Francé seinen Ursprung
im Wald. Der hochgewölbte Buchenwald mit
seinen imposanten, oft bis zu zwanzig Meter Höhe
vollkommen astreinen Säulenstämmen, dem leichten
Netzwerk seiner Decke und seinen durch die steilen
Äste und deren leicht geneigte Zweige von selbst gegebenen
Spitzbogenbildungen war den Schöpfern der
Gotik das Vorbild. Sie suchten nach einem Ausdruck
für das, was sie tiefinnerlich erfüllte. Ihre Seele war
voll von Erinnerungen an die geweihten Andachtsstätten,
auf denen die Vorfahren Sonnenfeste, Ostara-,
Mittsommer-, Erntefeste jahrhundertelang begangen
hatten, bevor sich dem alten Väterglauben der neue
des Christentums zugesellte. So bauten sie weiter
»heilige Haine« in ihren Domen und Kathedralen,
steingewordene Andachtshallen mit mächtigen schlanken
Strebepfeilern, die hoch im Raume sich spitzbogenförmig
zum Rippengewölbe zusammenfügten.
Und daß ihr Vorbild, der Waldesdom, recht deutlich
zur Erscheinung komme, ließen sie ihn durch die Ornamentik
der Kapitelle, Konsolen, Gesimse in seiner
eigenen Sprache reden, indem sie in mannigfaltigem
Wechsel das Blatt des Eichbaums, des Efeus, der
Rebe, der Rose, der Stechpalme und so weiter naturgetreu
oder stilisiert zu anmutiger Verwendung brachten.
Sogar den wechselnden Farbenzauber des Laubwaldes
wußten sie einzufangen, indem sie die ganze
Skala der Töne vom strahlenden Gelb über Grün und
Blau bis zum flammenden Rot in gewollter Buntheit
über die Spitzbogenfenster ergossen und den gefälligen
Sonnenstrahlen zum stimmungvermittelnden
Spiel überließen. Mag sein, daß die Kunsthistoriker
dem Deutungsversuch eines Außenseiters ihre Zustimmung
vorenthalten, die stillen Verehrer und Kenner
des Waldes wissen ihm freudigen Dank dafür.
Der Wald ist indessen mehr als ein Dom, mehr als
ein Wecker und Befreier vom Alltag verschütteter
seelischer Kraft. Sein lenzliches Blühen, Singen und
Klingen, sein leises Weben in Sommertagen, sein
buntes, jubelndes Herbstfarbenfest und seine verzauberte
Winterschönheit empfindet jeder naturfrohe
Mensch, auch wenn er den Sinn dieses Wechsels nicht
kennt. Daß aber und warum am Walde als einer auf
Gleichgewicht eingestellten, unendlich verschlungenen
Lebensgemeinschaft die Zukunft unserer Heimat
hängt und damit die Zukunft des deutschen Volkes,
davon gibt sich unter den Tausenden, die in der Waldluft
Erquickung suchen, kaum einer ernsthaft Rechenschaft.
Die Spaziergänger hören die Axtschläge dröhnen
und wissen, die Holzhauer sind am Werk. Sie sehen
zu Dutzenden lange Baumstämme auf dem Waldboden
hingestreckt, vielleicht auch geschnittenes Klobenholz,
nach Raummetern sorgfältig aufgeschichtet,
und wissen, der Förster will Holzauktion halten. Wie
vielen von ihnen steht klar vor Augen, was unser
deutscher Waldbesitz von 12,6 Millionen Hektar für
die Volkswirtschaft zu bedeuten hat?
Der Forstwissenschaftler Hausrath belehrt uns, daß
vor dem Weltkriege (seitdem fehlen verläßliche statistische
Zahlen) ständig 200000 Leute in deutschen
Wäldern beschäftigt waren und fünfmal so viele wenigstens
teilweise ihren Lebensunterhalt durch Arbeit
in den Waldungen fanden. Hinzu kamen weiterhin
alle jene, die mittelbar vom Walde lebten (nach der
Statistik eine Million), die also bei der Holzbearbeitung
für den Handel ihr Brot verdienten oder Waren
oder verwüsten ließ, muß immer noch tief in den
Staatssäckel greifen, um wenigstens einigermaßen die
Schäden durch Aufforstung wieder wettzumachen.
Und ebenso büßen die Franzosen noch heute den
schmachvollen Frevel ab, den unbeschwerte Spekulanten
während der Großen Revolution an ihrem Vaterlande
verübten, indem sie dreieinhalb Millionen
Hektar Waldungen fällen ließen.
Wo immer im Bergland oder am Meere ein grüner
Schutzwall umgelegt wurde, hat die Natur solchen
Eingriff gerächt. Im Gebirge trocknet der Boden aus,
wenn ihn die Axt seines Waldkleids beraubt. Unfähig,
wie früher im Schutz der Bäume Schmelzwasserfluten
und Regengüsse in seinen moosigen Grund zu saugen
und wenigstens so lange festzuhalten, daß sie nicht
jählings talabwärts stürzen, weicht der Boden in völliger
Ohnmacht dem wütenden Ansturm der Wasserkraft,
die ihn gemeinsam mit festen Stoffen, mit Gesteinsblöcken
jeder Größe, als »Mur« mit in den Abgrund
reißt. Wo solche gewaltigen Schutt- und
Schlammassen donnernd an Berghängen abwärtsrasen,
nehmen sie jedes Hindernis mit, zerstören Gebäude
und fruchtbare Gärten, verwüsten nicht selten
weite Täler und bringen die darin wohnenden Menschen
erbarmungslos an den Bettelstab. Harmlos hüpfende
Wässerlein, die im gehüteten Gebirgswald den
Wanderer durch ihr Gemurmel erheitern, können zu
reißenden Wildbächen werden, wenn Eigennutz sich
am Bergwald vergreift.
An Meeresküsten sind es die Dünen, die durch den
Wald gebunden werden, bloßgelegt aber langsam und
stetig in breiter Front landeinwärts wandern und
fruchtbares Land unter Flugsand begraben. Ein Beispiel
dafür ist die Frische Nehrung zwischen den
Städten Danzig und Pillau, die unter Friedrich Wilhelm
I. ihre Waldbedeckung verlor. Die Abholzung
half zwar die Kassen füllen, wandelte aber weite
Landstrecken in eine trostlose Sandwüste um.
Unermeßlich ist der Segen, den Wälder über ein
Land verbreiten, wenn sie als Segnung empfunden
werden. Als Segnung in voller Wortbedeutung. Nicht
nur im volkswirtschaftlichen Sinne als Erzeuger des
Holzbedarfs und vieler gewerblicher Notwendigkeiten,
als Schutzwall gegen Naturkatastrophen und Erhalter
der Volksgesundheit, sondern auch im ethischen
Sinne als Quellgrund starken Heimatglaubens
und enger Naturverbundenheit. Wir sind durch die
Mechanisierung des Lebens infolge der übersteigerten
Technik schon allzu sehr der Natur entfremdet, besonders
wenn uns ein widriges Schicksal ins Großstadtgetriebe
verschlagen hat. Die Maschinen, durch Menschengeist
geschaffen, sind drauf und dran, ihren
Herrn und Meister unter ihre Gewalt zu zwingen, ihn
zu verdrängen, zu ersetzen und ihm die Mitgift seiner
Altvordern, das vererbte Jägerblut, nach Vampirart
aus den Adern zu saugen. Schon gibt es unzählige
Großstadtkinder, die über Flugzeuge, Automobile und
andere technische Alltagswunder sachkundiger als Erwachsene
reden, doch nie einen Wald betreten haben,
geschweige seine Wunder erlebt. Das muß nicht sein
und das darf nicht sein.
Streicht alles fürs künftige Leben Tote schonungslos
aus den Unterrichtsplänen. Führt die Jugend wieder
und wieder unter das gotische Laubdach der Wälder
und lehrt sie die Heimat in ihnen sehen! Erzählt
ihr, was seit Armins Tagen der Wald dem germanischen
Volke war, wie er die Willensfestigkeit, die
Sinnes-, Geistes-, Gemütsart prägte, wie Fest und
Brauch, wie Lied und Glaube im Walde ihre Wurzeln
hatten und wie das alles heute noch zutiefst im deutschen
Blute lebt und sich in den Werken der Kunst
und Dichtung, in unseren Sagen und Märchen spiegelt.
Erlahmt nicht, bis in jedem Jungen ein Heimatpfleger
erzogen ist, der einmal um jeden Baum im
Walde, den frevelnde Hände verderben wollen, mit
Begeisterung kämpfen wird.
»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, schrieb
einer der besten Heimatkenner, F.W. Riehl, vor achtzig
Jahren unter dem Eindruck der Waldverwüstung
im »tollen Jahre« 1848. »Auch wenn wir keines Holzes
bedürfen, brauchen wir dennoch unseren Wald.
Brauchen wir das dürre Holz nicht mehr, um unsern
äußeren Menschen zu wärmen, dann wird dem Geschlecht
das grüne, in Saft und Trieb stehende zur Erwärmung
des inwendigen Menschen um so nötiger
sein. Wie die See das Küstenvolk in seiner rohen Ursprünglichkeit
frisch erhält, so bewirkt das gleiche der
Wald bei den Binnenvölkern. Weil Deutschland so
viel Binnenland hat, darum braucht es um so viel
mehr Wald als England. Rottet den Wald aus, ebnet
die Berge und sperrt die See ab, wenn ihr die Gesellschaft
im gleichgeschliffenen Allerweltsmaß der Geistesbildung
erhalten wollt! ... Ein Volk muß absterben,
wenn es nicht mehr zurückgreifen kann zu den
Hintersassen in den Wäldern, um sich bei ihnen neue
Kraft des natürlichen Volkstums zu holen. Eine Nation
ohne beträchtlichen Waldbesitz ist gleichzuachten
einer Nation ohne gehörige Meeresküsten. Wir müssen
den Wald erhalten, nicht damit uns der Ofen im
Winter nicht kalt werde, sondern auch, damit die
Pulse des Volkslebens warm und fröhlich weiterschlagen,
damit Deutschland deutsch bleibe!«