vom deutschen Wald
Ein Führer zu Heimatliebe und Heimatschutz
Von Carl W. Neumann
Mit 63 Textbildern
102 Abbildungen auf 64 Kunstdrucktafeln
und 4 mehrfarbigen Tafeln
Vorwort
Es besteht ein merkwürdiger Widerspruch zwischen
dem eingeborenen Naturgefühl der Deutschen und
ihrer geringen Anteilnahme am Leben und Weben in
der Natur. Alle lieben mit Inbrunst den Wald, aber
wenige sind ihm auch geistig verbunden – die unerläßliche
Vorbedingung, um ihm »in seine tiefste Brust
wie in den Busen eines Freunds zu schauen«. Sie
hören über sich einen Vogel im grünen Laub der
Bäume singen und werden sich dessen gar nicht bewußt.
Den Waldpfad stürmt eine große Libelle wie
ein lebender Pfeil auf und ab, glitzernd und strahlend
im Sonnenschein – sie schenken ihr kaum einen flüchtigen
Blick. An allen Naturwundern rechts und links
schreiten sie teilnahmslos vorbei, weil ihr Naturempfinden
schlummert und ihre naturgeschichtliche
Kenntnis zu armselig ist, um sie ahnen zu lassen, was
hinter den Naturdingen steckt. Nicht stumpf sind die
Sinne der Waldwanderer. Es braucht nur ein Anruf an
sie zu ergehen, der irgendwie ein Bewußtes weckt,
sei's ein Erlebnis, eine Erfahrung oder etwas Erlesenes.
Sofort ist die Anteilnahme da. Wer aber ohne
Anruf wandert und ohne alles Naturwissen ist, dem
bleibt der Wald für immer stumm, wie vieltönig es in
ihm klingen mag. Kein Tier erzählt ihm seine Ge-
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schichte und keine Pflanze flüstert ihm das Geheimnis
ihres Lebens ins Ohr.
Dies Buch will dem Leser die Möglichkeit bieten,
hinter der schönen Außenseite das Wesen des Waldes
kennenzulernen, indem es ihm das Verständnis erschließt
für das geheime Wirken und Weben, das sich
kraft ewiger Gesetze im Innern der grünen Pflanzen
vollzieht und all ihre Lebenstätigkeiten, ihr Werden,
Sein und Vergehen bestimmt. Dem bloßen sinnlichen
Erleben soll sich ein tieferes Erkennen der Lebenswunder
des Waldes gesellen, das den Naturgenuß vertieft
und ihm einen höheren Sinn verleiht. Durch Bild
und Wort, durch Schauen und Lesen soll dem besinnlichen
Naturfreund ein Wissensschatz vermittelt werden,
der ihn befähigt, die Bäume und Sträucher, die
augenfälligsten Bodenpflanzen und die zur Beobachtung
lockenden Tiere entweder nach Aussehen und
Lebensweise, nach ihren Stand- und Aufenthaltsorten
oder – was für die Vögel gilt – nach Stimme und Gesang
zu erkennen. Doch nicht nur belehren will das
Buch. Sein Hauptwert soll nach dem Wunsch des
Verfassers vielmehr in dem Anreiz zum Selbstbeobachten
und zur Vertiefung des Erlesenen und Erfahrenen
bestehen. Möchte es unserm deutschen Wald
recht viele neue Verehrer werben.
L e i p z i g , Frühjahr 1935
C a r l W . N e u m a n n